Werk

Frühe Zeichnungen

1904—1907

Die frühesten hinterlassenen Zeichnungen von Adolf Wölfli datieren aus den Jahren zwischen 1904 und 1907. Er soll jedoch gemäss Krankengeschichte bereits 1899 aus eigenem Antrieb mit dem Zeichnen begonnen haben. Aus der ersten Werkphase sind ungefähr 50 Arbeiten von geschätzten 200 bis 300 Zeichnungen erhalten geblieben.

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Krankengeschichte 19. Oktober 1902

«Hat den Sommer hindurch fleissig gezeichnet und jede Woche sein Bleistift verbraucht, seine Zeichnereien sind ganz blödes Zeug, ein wirres Durcheinander von Noten, Worten, Figuren, den einzelnen Bogen gibt er phantastische Namen wie Posaunenstrang, Unterschlung etc.»

Als eigenständige Werkgruppe von grosser zeichnerischer Qualität und bildhafter Vision bilden die Blätter aus dem Frühwerk die Grundlage, auf der sich Wölflis Kunst entwickelt. In diesen Arbeiten sind bereits jene formalen und inhaltlichen Elemente erkennbar, die für die Kontinuität des Schaffens wichtig werden. Die strukturierenden Grundelemente sind die Notenlinien, die aber noch nicht mit Noten aufgefüllt werden. Die erzählerischen Szenen sind eingefügt in ein reiches ornamentales Zierwerk, das durchsetzt ist mit Textpassagen. Er weitet seine Kompositionen von einem Blatt auf zwei oder vier Blätter aus. Hier kündet sich bereits seine Neigung zum Arbeiten in Serien und seine Hinwendung zum Erzählerischen an. Die schwarzweiss Zeichnungen auf unbedrucktes Zeitungspapier sind zuweilen signiert mit: «Adolf Wölfli, Komponist von Schangnau». Wölfli beschreibt diese Blätter sodann als «musikalische Kompositionen».

 

Krankengeschichte November 1900

«Pat. war den Sommer über sehr ordentlich, zeichnet viel Noten und komponiert, wie er sagt grössere Tonstücke.»

Um  1907 vollzieht Wölfli den Wechsel zur Farbe, die besonders für die Zeichnungen in seinen Schriften zu einem prägenden Gestaltungselement werden soll. Diese Hinwindung ist möglicherweise durch Walter Morgenthaler angeregt. Der junge Arzt und Psychiater Walter Morgenthaler absolviert zuerst im Jahr 1907 als Volontärarzt ein Praktikum an der Waldau. Er kehrt von 1908 bis 1910 als Assistenzarzt an die Waldau zurück und ist von 1913 bis 1920 dort als Oberarzt tätig.

Morgenthaler begleitet und unterstützt Wölflis Schaffen. 1921 veröffentlicht er als unmittelbarer Zeuge eine Monographie über Wölflis Leben und Werk; ein Pionierwerk auf dem Gebiet Psychopathologie und Kunst, das bis heute seine Gültigkeit hat. Es trägt den programmatischen Titel «Ein Geisteskraker als Künstler». Erstmals wird der Patient als Künstler bezeichnet und mit seinem vollen Namen (nicht mit den gebräuchlichen Initialen) vorgestellt.

Schriften und Zeichnungen

Ein Königreich von 25000 Seiten

1908—1930

1908 beginnt Wölfli mit seinem erzählerischen Werk, seinem Lebenswerk, an dem er bis zu seinem Tod 1930 mit wenigen Unterbrechungen arbeitet. Mittels eines komplexen Flechtwerks von Prosa, Poesie, Ordnungstabellen, neuen Zahlen, Illustrationen, Collagen und musikalischen Kompositionen verwandelt er seine Kindheit in eine großartige Vergangenheit und seine Zukunft in eine individuelle Utopie.

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Wölflis schriftstellerischer Nachlass, der sich in fünf Teilwerke gliedert, umfasst insgesamt 45 große, von ihm selbst gebundene Hefte sowie 16 Schulhefte mit einem Umfang von insgesamt über 25 000 Seiten. Darin eingebunden sind über 1600 Zeichnungen und 1600 Collagen, die heute als Einzelwerke auf  Ausstellungen weltweit präsentiert werden.
Wölfli gestaltet jede Seite als eine abgeschlossene Mise-en-page. Ihr tragendes Element ist die in gleichbleibendem Rhythmus sich fortbewegende Handschrift. Aus dem Schriftbild treten einzelne Buchstaben und Worte durch Vergrösserung oder Farbe hervor. Der Text ist durchsetzt mit Illustrationen, die formal und inhaltlich den Text ergänzen. Sie bilden mit ihm eine Einheit – als Zierbuchstaben, Zierleisten, Vignetten, Randleisten, kleinen in sich geschlossenen Kompositionen bis hin zu ganzseitigen Zeichnungen und ausklappbaren Tafeln.

25. September 1908

«Zeichnet weniger. Dafür schreibt er jetzt Geschichten, allerlei konfabulierte Selbstbiographien, in denen er in den verschiedensten Weltteilen alles mögliche erlebt hat, Räuberangriffe, Schiffsunglücke, Kämpfe mit Wilden, in den Städten hat er Theater und Concerte besucht etc.»

Von der Wiege bis zum Graab

1908—1912

Heft 1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 1A, 17

Der erste Teil von Wölflis Schriften umfasst insgesamt 2970 Textseiten und 752 Illustrationen, die er eigenhändig in 9 Hefte gebunden hat. Darin deutet Wölfli seine problematische Kindheit in eine glorreiche Geschichte mit wundersamen Abenteuern, Entdeckungen und überwundnen Gefahren um. Er setzt damit den Anfang zu einem 25000seitigen starken Erzählwerk, das ihn bis zu seinem Tod beschäftigen wird.

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25. September 1908

«Zeichnet weniger. Dafür schreibt er jetzt Geschichten, allerlei konfabulierte Selbstbiographien, in denen er in den verschiedensten Weltteilen alles mögliche erlebt hat, Räuberangriffe, Schiffsunglücke, Kämpfe mit Wilden, in den Städten hat er Theater und Concerte besucht etc.»

Die ausufernde Erzählung trägt den Titel «Von der Wiege bis zum Graab. Oder, Durch arbeiten und schwitzen, leiden und Drangsal, bettend zum Fluch. Manigfalltige Reisen, Abenteuer, Un=glücks=Fälle, Jagten, und sonstige Erlebnisse eines verirrten, auf dem gantzen Erdball herum. Oder, Ein Diener Gotes, ohne Kopf, ist ärmer als der ärmste Tropf». Sie übernimmt die Form eines Reiseberichts, dessen Held ein Knabe ist, der den Namen «Doufi» (berndeutscher Diminutif von Adolf) trägt. Mit seiner Familie bereist «Doufi» sozusagen die ganze Welt. Die bereisten Gegenden werden, ganz im Geiste der Fortschrittsgläubigkeit der Jahrhundertwende, mittels ausführlicher Beschreibungen, Distanzangaben und langer Listen von Städten, Bergen, Flüssen, Inseln und Kellern ausgemessen, systematisiert und inventarisiert.

Der Text, der Prosa, Poesie und ausführliche Inventarlisten kombiniert, ist ergänzt durch farbige Kartendarstellungen, Porträts und Illustrationen von Ereignissen wie Schlachten, Stürzen und Katastrophen. In diesen Zeichnungen finden wir erstmals das Motiv des «Vögeli», das fortan ein wichtiges Element in Wölflis Formenvokabular sein wird. Ein kleiner Vogel, der als Beschützer des allgegenwärtigen Alter Ego von Wölfli verstanden werden kann und der gleichzeitig ein sexuelles Symbol darstellt, das als wandelbarer Baustein den leeren Raum ergänzt und auffüllt.

11. Oktober 1911

«Zeichnet noch viel und schreibt an seiner Biographie weiter, er will aber seine Produkte nicht verkaufen, um kein Geld, höchstens ausleihen. Als er neulich von der Bildhauerin Th. Ries aus Wien besucht wurde, der Schwester von Dr. Ries [Ärztin in der Waldau), gab er ihr einige sehr gute Antworten, auch ihr wollte er nichts abgeben.»

11. März 1916

«Zeichnet fleissig, da er viele Farbstifte bekam, zeichnet jetzt recht schön, hat mehr Abwechselung, seine Zeichnungen werden von Künstlern als künstlerisch eingeschätzt.»

Geografisch und Algebraische Hefte

1912—1916

Heft 6, 7, 8, 11, 12, 13, 14

Während «Von der Wiege bis zum Graab» die Vergangenheit neu erzählt, beschreibt Adolf Wölfli in den «Geographischen und Allgebräischen Heften» die glorreiche Zukunft. Er eignet sich den ganzen Globus an und vermisst danach den Kosmos. Die Entstehungsgeschichte der «Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung» gipfelt am 23. Juli 1916 in Wölflis Selbsternennung zu «Skt. Adolf II».

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Wölfli schildert seinem Neffen Rudolf, wie die künftige «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung» zu entstehen hat. Es soll der gesamte Globus aufgekauft, neu organisiert, flächendeckend urbanisiert und schliesslich durch konsequente Umbenennung vollumfänglich angeeignet werden: Schangnau wird zu «Skt. Adolf-Heim», die Schweiz zu «Skt. Adolf-Wald», der Ozean zu «Skt. Adolf-Ozean» und Afrika zu «Skt. Adolf-Süd». Wölfli selbst wird zu Skt. Adolf und seine Begleiter, die «Schweizer Jäger- und Nathurvorscher-Reise-Gesellschaft», zur «Riesen-Reise-Avantgaarde».

Die Mitglieder dieser «Avantgaarde» verlassen danach an Bord des «Riesen-Reise-Transparantts» oder des «Blitz-Schlangen-Reise oder Transport-Korbes» die Welt und bereisen den Kosmos. Wie zuvor die Erde wird das gesamte Universum ausgemessen, inventarisiert und umbenannt. Da die herkömmlichen Zahlen den gigantischen Dimensionen der kommenden «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung» nicht mehr gerecht werden, erweitert Wölfli das Zahlensystem um mehrere Einheiten: auf Quadrilliarde folgen jetzt Regonif, Sunif, Jeratif, Unitif, Vidonis, Weratif, Hylotif, Ysantteron, usw. Neue höchste Zahl wird «Zorn».

Hand in Hand mit dieser räumlichen Expansion wächst das «Skt. Adolf-Kapital-Vermögen», das Wölfli in Form von «Vermögens-Kapital-Zins-Rechnungen» über das Jahr 2000 hinaus berechnet, verwaltet und vermehrt. Aus diesen Berechnungen und Tabellen entstehen Zahlenbilder, die zusammen mit den Notenbildern Macht, Weite und Schönheit der Wölflischen Weltschöpfung versinnbildlichen.

Zitat Adolf Wölfli

«Ja wass!! Es ist, als ob das Bengalisieren und Funkensprühen aus unser’m fast unzähligen, gefüllten Allmachts-Rohr, kein Ende haben sollte. Und nochmals wird die neue Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung, in noch viel grösserem Masse als das letzte Mal, nach allen erdenklichen Richtungen der Wind-Roose hin, vergrössert und erweitert.»

Hefte mit Liedern und Tänzen

1917—1922

Hefte 15, 16, 17, 18, 19, 20

In dieser ausufernden Erzählung von über 7000 Seiten besingt und feiert Wölfli im Stil von Märschen, Polkas und Mazurkas seine «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung». Musikalische Kompositionen prägen diese hymnische Verehrung, die ergänzt werden durch aus Zeitschriften ausgeschnittene Abbildungen. Zusammen bilden sei ein Panorama von Wölflis neuer Schöpfung, seiner Sehnsüchte und jener Welt, von der er ausgeschlossen blieb.

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Adolf Wölfli setzt in diesen Heften die in den «Geographischen und Allgebräischen Heften» begonnene Zelebrierung seiner Weltschöpfung fort. In immer neuen Varianten besingt er auf über 7000 Seiten die «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung». Ein wichtiger Aspekt der Hefte mit Liedern und Tänzen ist ihr Aufbau. Während die vorangegangenen Schriftwerke durch die fortlaufende Erzählung und die Seitenzahlen strukturiert waren, folgen die «Hefte mit Liedern und Tänzen» einem eigenen Gliederungsprinzip. Die musikalischen Kompositionen sind in Tänzen organisiert. Jeder Tanz umfasst seinerseits Polkas, Mazurkas usw., die ihrerseits wiederum in eigenen Folgen gruppiert und durchnummeriert sind. Durch diese Gliederung kann Wölfli die einzelnen Polkas, Mazurkas usw. ineinander verschachteln, indem er beispielsweise in einer Folge von Polkas eine Reihe von Mazurkas einsetzen kann.

Die verschiedenen Folgen ertönen gleichzeitig und schaffen einen riesigen, flächendeckenden Lied- und Tanzteppich, auf dem Wölfli, wie ein Derwisch um sich selbst drehend, seine eigene Schöpfung feiert. Ergänzt wird diese Hymne mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Abbildungen, die Wölfli ab 1915 immer häufiger verwendet. In diesen Collagen nimmt er in konzentrierter Weise wichtige Motive aus seiner Welt in immer wieder neuer Gestalt auf. Die Themen haben sich im Vergleich zu seinem Frühwerk nicht geändert: Weiterhin finden wir das Motiv der Familie, Abbildungen von Frauen, Mädchen und auch Erotika, idyllische Landschaftsszenen, aber auch die Darstellung der grausamen Launen der Natur und exotische Szenerien mit Anspielungen auf technischen Fortschritt, Heldentum, Schönheit, Luxus und Reichtum.

Der Rückgang der narrativen Texte und der eingefügten Zeichnungen widerspiegelt eine gewisse Ermüdung. 1922, im «Schluss»-Text von Heft Nr. 20, S.1, begründet Wölfli, was ihn daran hindere, sein umfangreiches erzählerisches Werk fortzuführen:

«Schluss. Hochwährte Läser und Läserinnen. Wegen schmertzhafter Krankheit und grässlich biterem Leiden, findet sich meine ändsuntterzeichnete Wenigkeit genöhtigt, das grosse, lehrreiche, untterhaltende und, schöne, in keiner Ahrt und Weise zu untterschätzende Buch, in seinem unvollendeten Innhalt diräkt, abzuschliessen, was den umstand nicht verhählt, Letzerem noch eine Anzahl sinnreiche, schöne und ahnschauliche Bilder, beizufügen, zu deren musikahlischer Bearbeitung, ich leider die, Kraft und Ausdauer, nicht mehr besitze. Und doch, möchte ich, nachdem ich schon 22 volle Jahre lang, An diesem kompliszierten Wärk gearbeitet habe und den Tritten Theil des gantzen Buches zu Stande brachte, dem Letzteren noch einen hübschen Schlussakt beibringen, an welchen sich gewiss, manches musikalische Genie, ergötzen und freuen wirt. Es folgt nun Hier, ein schöner, Elfgängiger, Schluss=Marsch=Stooss, bestehend aus ll Lieder. 1,922.»

Albumm-Hefte mit Liedern und Tänzen

1924—1928

Allbumm-Hefte Nr. 1, 2, 3 , 4; vier Hefte ohne Titel und Nummern

Alle acht Hefte mit insgesamt über 5000 Seiten enthalten in Solmisation notierte musikalische Kompositionen. Jedem Schlüsselwort ist eine Ordnungszahl nachgestellt, die die Aufzählung gliedert. Die Allbumm-Hefte werden demnach von drei Bewegungen beherrscht: der Wiederholung von Schlüsselwörtenr, der Expansion der aufsteigenden Zahlenreihen und der musikalischen Komposition. An Ort vorwärtsstürmend rennt Wölfli wie auf einem Laufband «weitt’r, immer weitt’r».

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Trotz seiner Ankündigung im «Schluss»-Text von 1922 setzt Wölfli sein Schreiben und Komponieren fort;  er ändert aber die Gestaltung der acht folgenden Hefte, die er mit «Allbumm-Hefte» bezeichnet. Sie erlangen einen Umfang von insgesamt über 5000 Seiten. Die Erzählung ist ersetzt durch eine Abfolge von Schlüsselwörtern, die bis zu tausendmal weiderholt werden, bevor sie durch andere abgelöst werden.

Die Allbumm-Hefte weisen ein neues, längliches Querformat auf und sind im Umfang dünner und handlicher. Die alte durchgehende Nummerierung wird nicht weitergeführt, nur wenige Hefte tragen noch einen Titel. Sie enthalten einen Mittelteil mit eingebundenen Einblatt-Zeichnungen, die auf gutem Zeichenpapier ausgeführt sind. In Layout und Format erinnern diese Hefte an gebräuchliche Bilderalben. Offensichtlich ist Wölfli hier bemüht, die Zeichnungen mit seinem erzählerischen Werk in Verbindung zu bringen. Die eingefügten Einblatt-Zeichnungen sind auf der jeweiligen Rückseite nummeriert und mit «Erklährungen» versehen, die sich nur auf die «vorliegenden Bilder», nicht aber auf die Lieder oder Texte der Allbumm-Hefte beziehen. Sie tragen Datierungen von 1927 und 1928; Wölfli hat die Hefte mit Texten von 1924 und 1925 also erst zu einem späteren Zeitpunkt als Alben gebunden. Bei den vier Heften ohne Titel fehlen zwar die Zeichnungen im Mittelteil, doch ist am Rücken des Umschlags erkennbar, dass weitere Einblatt-Zeichnungen eingebunden waren.

Neben den Zeichnungen enthalten die Allbumm-Hefte 201 im Text eingeklebte Reproduktionen, die Wölfli als «Bilder=Rähtsel» betitelt und durchnummeriert hat. In Form von witzigen Moritaten-Versen thematisieren sie Persönlichkeiten und Ereignisse in Bern, der Schweiz oder dem Ausland: Der Bundesrat, das Schweizer Militär oder technische Neuerungen gehören zum Themenkatalog:

«Bilder=Rähtsel, N.40. Auflöhsung. Das Kaffee Nattio,=nal in Bärn! Das het a schöna, Saal! D'Kaffee, nu!!, Däh ha n i gährn! Und i bi no nitt, Kaahl! I dänka öft'rs, no a Fährn! A d's schöna Emmi,=Thal! Am Himm'l oba, gläntzt d'r Stäärn! I bi d'r Printzi,=paahl. Ist zugleich, l6 Schläg, Marsch. Skt. Adolf II., Bern.»

Trauer=Marsch

1928—1930

16 Hefte ohne Nummern

Der «Trauer=Marsch» bildet den Abschluss von Wölflis dichterischem Schaffen. Es handelt sich um 16 Hefte von über 8300 Seiten dicht beschriebenen Texten und Collagen. Die Erzählung ist ersetzt durch Laute und Rhythmen und erhält die Form eines lautmalerischen Gedichts. Der «Trauer=Marsch» endet unvollendet mit seinem Tod im Jahr 1930.

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Wölfli konzipiert den «Trauer=Marsch» als ein persönliches Requiem, das sich zu einem fesselnden Mantra verdichtet. Die darin enthaltenen «Marsch-Lieder» sind nicht wie in den vorhergegangen Heften als Solmisation aufgezeichnet, sondern fast abstrakte Lautgebilde. Ausgehend von Schlüsselworten aus seinem Universum entwickelt Wölfli einen Dialektreim auf «Wiiga» (Dialektwort von Wiege). Auf diesen Dialektreim folgt eine Reihe von Lautgebilden, die sich auf die Vokale a, e, i, o, u reimen. Jedes Lautgebilde ist vom nächsten durch die Angabe «16.Cher:1» getrennt, die wir als als Taktangabe interpretieren.

Seite 3434 bis 3435:

«Und. 949. Lied. Skt. Adolfina. 129. K.=Th. 849. Tenohr: 1 ? D'Pathé=Baabi, witt i d'Wiiga! Lutt=Sohn=Schiiga, ritt nit z'Witt! D'Brutt schon triiga, witt nit Britt! ? D's Chruttschou Ziiga, witt nit Gritt!!! Chehr: (D's Grittali Cha doch, ritta Itt! D'r Schaah Cha, Bit-tah. 16. Chehr:1. Wiiga. 16.Cher:1. Giiiga. 16.Cher:1. Stiiiga. 16.Cher:1. Schiiiga. 16.Cher:1. Ziiiga. 16.Cher:1. Fliiiga. 16. Chehr:1. Fiiiga. 16. Chehr:1. Nit a Chida. 16.Cher:1. Siba Gida. 16.Cher:1. Riiiga. 16.Cher:1. Biiiga. 16.Cher:1. Liiiga. 16.Cher:1. Opf'r=Stok'r. 16.Cher:1. Chriiiga. 16.Cher:1. Siiiga. 16.Cher:1. Triiiga. 16.Cher:1. Hopptiquax'r. 16.Cher:1. Waaahra. 16.Cher:1. Annnah. 16.Cher:1. Saaah'ra. 16.Cher:1. Hammah. 16.Cher:1. Haaahra. 16.Cher:1. Mammah. 16.Cher:1. Haaahra. 16.Cher:1. Zammah. 16.Cher:1. Kaaahra. 16.Cher:1. Wammah. 16.Cher:1. Schaara. 16.Chehr:1 Schammah. 16.Cher:1. S'wittara witt. 16. Ist, etzak: 68,718,476,636, Schläg. Skt.Adolf II., Bern, Schweiz.»

Der «Trauer=Marsch» enthält nur noch wenige Zeichnungen. Er ist mit über 1000 Collagen aus zeitgenössischen Zeitschriften illustriert, die sich beim Durchblättern zu einem grossen Panorama zusammenfügen, das Wölflis eigene Visionen und die einer ganzen Epoche spiegelt. Im «Trauer=Marsch» ruft Wölfli in komprimierter Form noch einmal in Wort und Bild die zentralen Themen seiner Welt-Schöpfung auf und verbindet sie mit «Wiege», dem Wort, das am Anfang sowohl seines Lebens wie seiner Schriften steht.

Adolf Wölfli 1929

«Ich arbeite schon vile Jahre an einem sehr schönen und starken Trauer=Marsch, der insgesamt 8850 je schöne Marsch-Lieder bekommt. 7150 Lieder dafohn sind schon gemacht. Dazwischen kommen je partienweise zahlreiche schöne Gedichte, Rätsel, Humoresken und Juxe: Reise-Geschichten! Jäger-Geschichten und Kriegs-Geschichten! Sowie eine ganz respektable Anzahl schöner Bilder. Das ganze Werk, wenn’s einmal fertig ist, hat den tadellosen Wert von 55'000 Fr.»

Brotkunst

1912—1930

Einblattzeichnungen

Parallel zum erzählerischen Werk zeichnet Wölfli zuerst vereinzelt, ab 1916 wegen steigender Nachfrage regelmässig einzelne Blätter, die er gegen Farbstifte und Tabak eintauscht oder an Bewunderer und Sammler verkauft. Walter Morgenthaler, Psychiater an der Waldau und Förderer von Wölfli, bezeichnet diesen Werkkomplex darum als «Brotkunst». Von den mehr als tausend Zeichnungen sind bis heute um die 760 Werke erhalten geblieben.

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In der Regel sind es Farbstiftzeichnungen, ausnahmsweise auch Collagen, die Wölfli als Einblattzeichnungen auf Zeichenpapier gemacht hat. Jedes Werk hat Wölfli rückseitig mit Erklärungen versehen, welche eine Beziehung zur «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung» herstellen. Diese Arbeiten stehen also inhaltlich und formal in engem Bezug zu den Schriften, in ihrer Gestaltung sind sie jedoch einfacher konzipiert. Dieser klarere Bildaufbau ist nicht zuletzt auch eine Konzession an den Geschmack seiner Kundschaft, das heisst, die wahrgenommene Möglichkeit, die Zeichnungen besser verkaufen zu können.

Krankengeschichte 12. April 1916

«Immer in seiner Zelle, wo er fleissig Märsche schreibt u. Porträts zeichnet. Letztere finden rasenden Absatz, da sie wirklich oft von künstlerischem Wert sind. Das Stück wird à 3 fr. verkauft. Das Geld bekommt der Oberwärter, der daraus Materialien kauft. Die nicht verkauften Porträts wandern in die Sammlung.»

Infolge der grossen Nachfrage dieser «Porträts», wie Wölfli die Einblattzeichnungen selber nennt, muss er zeitweise sogar einen Assistenten beiziehen, der ihn unterstützt. Die Erträge, die Wölfli mit den Verkäufen verdient, werden durch die Psychiatrische Klinik Waldau verwaltet, um damit weiteres Zeichenmaterial anzuschaffen.

Die Einblattzeichnungen sind für die Rezeption von Wölflis Werk von grosser Wichtigkeit. Während seine Schriften und somit das tatsächliche Ausmass seiner Kopfwelten erst 1976 bekannt werden, zirkulieren die Einblattzeichnungen bereits zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit: zuerst in einem kleinen Kreis von Liebhabern, später unter Künstlern (Jean Dubuffet, André Breton, Arnulf Rainer u.v.a.), seit den 1970er Jahren auch in Kunstausstellungen und auf dem Kunstmarkt.

Krankengeschichte 13. Juni 1918

«Als ein Bekannter eines Tages die Zeichnungen des Pat. ansah, die wir im Sammlungszimmer haben & ich W. dann herkommen liess, um sie zu erklären, war er nachher sehr verstimmt und wollte keine mehr zeichnen: Wir schätzten sie doch nicht genug, das nehme ihm nur Zeit weg, er müsse alle seine Kraft verwenden auf sein Lebenswerk, das sei zehnmal wichtiger, als die Zeichnungen [Brotkunst/Einblattzeichnungen], die nur so herumliegen & zu Grunde gehen, usw.»

Auftragsarbeiten

1916—1926

Adolf Wölfi hat verschiedentlich im Auftragsverhältnis gearbeitet und damit Werke für einen öffentlichen oder privaten Gebrauch geschaffen. Diese Arbeiten weisen auf sein Selbstbewusstsein als Künstler hin und verdeutlichen, dass Wölfli sein Werk an ein Publikum adressierte.

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Im Anschluss an die Präsentation der Schweizer Psychiatrie an der Landesausstellung von 1914 konzipierte Walter Morgenthaler ein Psychiatrie-Museum in der Waldau. Er beauftragt Wölfli mit der Dekoration von Schränken und Vitrinen, in welchen die Ausstellungsgegenstände aus der Sammlung Waldau ausgestellt werden. Diese Vitrinen sind bis heute im Schweizerischen Psychiatrie-Museum Bern in Funktion und öffentlich zugänglich.

Weitere Möbelstücke dekoriert Adolf Wölfi in den 1920er Jahren auch für die Lehrerin Hermine Marti, die als Bewunderin und Förderin seiner Kunst bis 1930 eine eindrückliche Sammlung von Werken beim Künstler direkt erwirbt. Im Auftrag von Dr. Oscar Forel, Arzt an der psychiatrischen Anstalt Waldau in den frühen 1920er Jahren, gestaltet Wölfli 1922 einen vierteiligen Paravent, der beidseitig mit 12 respektive 4 Zeichnungen bezogen ist (heute Collection de l’Art Brut Lausanne).

Angeregt durch Walter Morgenthaler realisiert Adolf Wölfli 1926 für den Vortragssaal des Neubaus in der Waldau das 1,5 x 3 Meter grosse Wandbild „Memorandumm“, das flächenmässig als sein grösstes Werk gilt. In dieser grossformatigen Zeichnung nimmt er Motive und Themen seines Schaffens auf und lässt in einer Zusammenschau die Entstehung seiner «Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung» noch einmal Revue passieren.

Textausschnitt aus der Rückseite der Zeichnung „Memorandumm“

«Ein Angedenken an die, von meinem Geburts=Tag, dem ersten Märtz, 1,864, bis und mit, dem 22. Februahr, 1,890, exakt ein, ungefähr ein Jahr lang ahnhaltenden, sälbst mitgemachten, im allerhöchsten Grade hochintteressanten, lehrreichen ab‘r höchst gefährlichen, Schöpfungs=Reise».

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